Historischer Rückblick
In Mittelalter und früher Neuzeit entschieden die Landesherren, ob sich Juden in ihrem Gebiet ansiedeln dürfen und welche Regeln für sie galten. Nach Kiel, das zum Herzogtum Holstein gehörte, kamen die ersten jüdischen Familien im 17. Jahrhundert. Dänemark gewährte Juden 1814 volle Bürgerrechte, die zum dänischen Gesamtstaat gehörenden Herzogtümer Schleswig und Holstein wollten sich dem jedoch zunächst nicht anschließen.
1852 richtete die Stadt aber immerhin den bis heute bestehenden jüdischen Friedhof in der Kieler Michelsenstraße ein. 1854 wurde dann die dänische Regelung in Schleswig, 1863 in Holstein eingeführt. Als Schleswig-Holstein 1867 preußische Provinz wurde, galt hier auch die in Preußen etablierte politische Gleichstellung jüdischer Bürger, die Kieler Israelitische Gemeinde wurde damit offiziell anerkannt. Sie errichtete 1868 die erste Kieler Synagoge in der Haßstraße. 1910 folgte dann eine größere Synagoge in der Goethestraße, in der ein reges kulturelles und geistliches Leben herrschte.
Als Folge des Ersten Weltkrieges wuchs allerdings der Antisemitismus in Deutschland. 1932 gab es einen Sprengstoffanschlag auf die Kieler Synagoge, der nie aufgeklärt wurde. In der Nacht vor der Kommunalwahl, am 12. März 1933, wurde der jüdische SPD-Politiker Wilhelm Spiegel ermordet, am folgenden Tag zog die NSDAP ins Rathaus ein. Von den 522 Mitgliedern der Israelitischen Gemeinde entschieden sich nun viele für Wegzug und Auswanderung. In der Pogromnacht vom 9. November 1938 gab es einen Brandanschlag auf die Synagoge, viele Geschäfte und Wohnungen wurden zerstört, Menschen verhaftet. 1939 hatte die Gemeinde noch 227 Mitglieder. Ab 1941 gab es auch in Kiel Deportationen.
1948 bestand in Kiel eine kleine Gruppe von 66 Überlebenden, die von der „jüdischen Wohlfahrtspflege“ betreut wurde. 1960 gründeten sie die „Jüdische Gemeinschaft Schleswig-Holstein“, die sich aber 1968 wieder auflöste. Die übrigen Mitglieder traten der Jüdischen Gemeinde Hamburg bei.
Nach der Wiedervereinigung gewährte Deutschland ab 1991 Juden aus den ehemaligen Staaten der Sowjetunion freie Einreise nach dem Kontingentflüchtlingsgesetz. Mit der wachsenden Zahl jüdischer Bürger entstanden auch wieder neue jüdische Gemeinden.
Die Jüdische Gemeinde Kiel und Region
Das jüdische Leben in Kiel war erloschen, bis 1991 die ersten jüdischen „Kontingentflüchtlinge“ aus der ehemaligen Sowjetunion nach Schleswig-Holstein kamen. Diese Einwanderer kamen aus einer Gesellschaft, in der sie ihre Religion nicht ausüben durften. Nur aus Erzählungen der Großeltern wussten sie ein wenig über jüdische Traditionen und Gebräuche. Sie hatten also eine doppelte Aufgabe vor sich – zum einen die Integration in die deutsche Gesellschaft, zum anderen das Wiederfinden ihrer jüdischen Identität.
Am Anfang betreute die Jüdische Gemeinde Hamburg die jüdischen Einwanderer in Kiel. 1993 gab es ein erstes informelles Treffen der rund 20 Gemeindemitglieder in der Gelehrtenschule. 1994 trat Chaim Kornblum sein Amt als Kantor in der Synagoge Lübeck an. Gemeinsam mit der damaligen Sozialarbeiterin der Jüdischen Gemeinde Lübeck, Soja Kanushin, fuhr er einmal die Woche nach Kiel, um in einem AWO-Bürgertreff in der Fockstraße Religionsunterricht für Kinder und Erwachsene zu erteilen und Sozialberatung in russischer Sprache anzubieten.
Mit der ständig wachsenden Zahl von Mitgliedern wurden die Notwendigkeit und der Wunsch nach eigenen Räumen immer dringlicher. Die damalige Stadtpräsidentin Silke Reyer setzte sich engagiert dafür ein, dass ein Pachtvertrag für das ehemalige Volksbad in der Wikingerstraße in Kiel-Gaarden im Jahre 1997 abgeschlossen werden konnte. Seitdem wurde dieses Gebäude zum offiziellen jüdischen Gemeindezentrum, dessen Name lautete „Jüdische Gemeinde in Hamburg – Jüdisches Gemeindezentrum Kiel“. Zugleich wurde Viktoria Ladyshenski als hauptamtliche Betreuerin eingestellt.
Das 1908 errichtete, denkmalgeschützte Backsteingebäude musste zunächst saniert werden, wobei die Mitglieder tatkräftig mit anpackten.
Im September 1998 konnte das neue Gemeindezentrum feierlich eröffnet werden. Es wurde sofort zur Anlaufstelle für die zu jener Zeit 200 Mitglieder in Kiel und Umgebung. Es enthält eine Synagoge, wo seit der Eröffnung an jedem Schabbat und zu allen Feiertagen G-ttesdienste gefeiert werden. Die dafür notwendige Torarolle war zunächst noch geliehen. Diese Synagoge ist die erste Synagoge in Kiel nach dem zweiten Weltkrieg. Über der Synagoge befindet sich ein Veranstaltungsraum, außerdem gibt es eine Milch- und eine Fleischküche, das Verwaltungsbüro und eine große Bibliothek mit einer Vielfalt an Titeln in russischer und deutscher Sprache zur jüdischen Religion, Kultur und Geschichte.
Im Jahr 2004 lief der Staatsvertrag des Landes mit der Jüdischen Gemeinde Hamburg aus. Das Gemeindezentrum in der Wikingerstraße bildete den Ausgangspunkt für die neue „Jüdische Gemeinde Kiel und Region“, die im November 2004 gegründet wurde. Die Jüdische Gemeinde Kiel und Region umfasst heute rund 400 Mitglieder, wobei auch deren nicht jüdischen Ehepartner, Angehörige und Kinder am Gemeindeleben teilnehmen.
Einbringung der Tora-Rolle*
Seit 2010 nennt die JGKuR eine Tora - ein Herzstück jüdischen Glaubens - ihr eigen und freut sich sehr darüber. Möglich geworden ist das dank zahlreicher Förderer und Sponsoren, allen voran die Bürgerstiftung Kiel und der Freundeskreis, sowie zahlreicher kleinerer Spenden und eigener Anstrengungen. Die Einbringung der Tora-Rolle hat aber nicht nur religiöse Bedeutung, sondern zeigt, dass wir uns hier zu Hause fühlen – in diesem Haus, in dieser Stadt und in dieser Gesellschaft, die uns immer weniger als etwas Exotisches betrachtet, sondern die Gemeinde und ihre Mitglieder immer mehr als unabdingbaren Teil der deutschen Gesellschaft wahrnimmt.
* Bei der Tora handelt es sich um eine kunstvolle Schriftrolle, in der die 5 Bücher Moses zu finden sind, und damit um eines der wichtigsten Schriftstücke des Judentums.